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Was John McPhee mit Champagner (1998) zu tun hatte

Seinerzeit versuchte Klett-Cotta, John McPhee als Autor in Deutschland zu etablieren. Looking for a Ship kam 1993 als Cargo auf den Markt, es folgte Levels of the Game 1994 als Schlagabtausch: die Ebenen des Spiels. 1995 erschien Orangen. Lektorin Dr. Killer erklärte mir, sie würde mit dem Verweis auf Oranges mein Champagner-Buch bei Klett-Cotta schon unterbringen. Es funktionierte.

Und so ist McPhee ein Thema für sich. In der Tat habe ich mir einiges bei ihm abgeschaut. McPhee ist ein Spezialist abseitiger Themen und ein Meister der Struktur: Jedes seiner Bücher hat einen dem Thema entsprechenden Aufbau.

In einer Besprechung zu Levels of the Game für den Deutschlandfunk finden sich einige Anmerkungen zu McPhees Ideen über Aufbau und Struktur einer Story.

Im allgemeinen entwickelt McPhee seine Geschichten durch einen markanten Hauptdarsteller, den er häufig interviewt und um den herum sich die anderen Charaktere und Orte gruppieren. So hätte ich natürlich auch bei Champagner vorgehen können. Allein Daniel Thibault, ein önologischer Tausendsassa und Chef de Cave von Champagne Charles Heidsieck und Piper-Heidseick, war illuster genug, um drei Kapitel zu füllen. Trotzdem entschied ich mich, um der Vielfalt der Assemblage-Welt gerecht zu werden, in dem Kapitel über Kellermeister eine Reihe unterschiedlichster Charaktere zu porträtieren. 

Neben Oranges hat McPhee inzwischen, basierend auf seinen Artikeln im New Yorker, über 30 Bücher geschrieben: Über die Schweizer Armee, Einsiedler in New Jersey, über die Geologie Kaliforniens, der Appalachian und der Rocky Mountains, über die Flußbegradigung des Mississippi River. Und so weiter, und so fort: Über einen Burschen in Small Town New Hampshire, der noch Kanus aus Birkenrinde herstellen kann, über den Environmentalist David Brower - Encounters with the Archdruid, über den Heringsfisch Alosa sapidissima, geschätzt wegen seines delikaten Aromas schon von George Washington und Henry David Thoreau. Eine Sammlung seiner Aufsätze enthält einen über Reifen. 

Außerdem in McPhees Unendlichangebot ein Reportage-Buch über Andy Chase, Dirty Shirt und Terrible Terry. Typen, die Beine wie Bierfässer haben, einmal im Monat lächeln, keine Freundschaft kennen und daher für relativ gutes Geld auf einem der letzten US-Handelsschiffe arbeiten. In diesem Buch erfährt man hübsche Sachen, wie die Welt auf hoher See so funktionieren kann: 

 „Nicht jedes (Schiff) sinkt aufgrund von Kollisionen oder Navigationsfehlern. Man hat Besatzungen aus Rettungsbooten geholt, die gepackte Koffer und Lunchpakete bei sich hatten. Nehmen wir an, daß Südafrika wegen eines Embargos dringend Öl benötigt und bereit ist, Frachtraten in jeder Höhe zu zahlen. Man macht den Supertanker unkenntlich, indem man einen falschen Namen an den Bug pinselt, schickt ihn in einen südafrikanischen Hafen, löscht das persische Rohöl, man verläßt Südafrika, öffnet die Aussenventile, um das Öl durch Wasser zu ersetzen, packt die Koffer, macht sich ein paar Sandwiches und läßt die Ventile geöffnet, bis das Schiff sinkt. Folgt man diesem Szenario, wird einem niemand den Preis für einen originellen Einfall verleihen. Möglicherweise kassiert man die Versicherungssumme für das Schiff und vielleicht auch für das ‚Öl‘, das mit ihm gesunken ist. Vielleicht wird man erklären müssen, warum es keinen Ölfleck gab.“

Mehr dazu in einer Buchbesprechung zu Looking for a Ship, deutsch: Cargo, seinerzeit für den Deutschlandfunk verfaßt.

Kein Wunder also, daß auch ein Tennismatch zwischen Arthur Ash und Clark Graebner es in ein Buch schaffte - Levels of the Game halt. 

Allein McPhees fünf Reportagen über die Geologie Nordamerikas füllen ein 700-Seiten-Werk, Annals of the Former World. All das, und ich weiß relativ genau, wovon ich rede, war nichts nach dem Geschmack deutscher Feuilletonisten der achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Klett-Cotta publizierte, obwohl man noch mehrere Rechte erworben hatte, nur noch ein Buch von McPhee. Es erzählt die Geschichte des Schmugglers Norton T. Dodge, der in seinem offiziellen Leben als Ökonomie-Professor, Spezialgebiet Sowjetunion, in Maryland jobbte.

Seit seinem ersten Besuch in der UdSSR 1955, um dort Traktoren für seine Promotion an der Harvard University zu inspizieren, interessierte sich Dodge für Underground-Kunst. Auch auf seinen späteren Research-Trips traf er auf jede Menge Traktoren, seine Dissertation ist 600 Seiten lang, nachts aber auf regimekritische Künstler. Deren Werke schmuggelte er nach Hause. Oder er ließ schmuggeln. Zwischen 1956-1986 läpperten sich so auf seiner Farm in Maryland 9.000 Werke zusammen. Mehr zur Norton and Nancy Dodge Collection of Soviet Nonconformist Artauf dieser Website. 

McPhee steht für eine Literatur des Faktischen. The Literature of Fact heißt eine Lehrveranstaltung des Ferris Professor of Journalism an Princeton. Dies hat eher wenig mit der Like a Novel-Konzeption von Tom Wolfe und anderen zu tun. Ich habe mit McPhee drüber diskutiert. Er erklärte, so ähnlich zumindest, wenn er jemanden um 14 Uhr mittags in der Mitte eines Hügels mit einem Schirm von Procter & Gamble sieht, dann hat man das auch so schriftlich festzuhalten. Und nicht: Kurz vor Sonnenuntergang auf dem Hügel mit einer Maschinenpistole von Kalashnikov USA. 

Dann war Feierabend für McPhee-Publikationen im Deutschland. Seinerzeit strebte der Tempo-reiche Journalismus im Deutschland der 1990er Jahre eher nach der Kalashnikov auf dem Hügel. Zumindest im hanseatischen Flachland. Like a Novel - daß man sich dabei auf Tom Wolf berief, naja, immerhin erschien Wolfes The New Journalism: A la Recherche des Whichy Thickets schon im Februar 1972. Wie so häufig lange Leitung, also im deutschen Journalismus.

Und die Leitung steht weiter, die Messlatte steht immer noch auf dem Hügel vor Sonnenuntergang neben der Kalashnikov. Daher mutet auch die sogenannte Aufarbeitung um den „Einzeltäter“ mit der damit verbundenen Analyse zur „Reportage als anfällige Stilform“, um es freundlich auszudrücken, etwas verlogen an. Schließlich hat Top-Stilisten Resolutious preisgeehrt nur das betrieben, was die Leitung so hergab. Like a Novel halt - ja ja, ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich irgendwann, es muß Anfang oder Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhundert gewesen sein, Claudio Isani auf eine Spiegel-Reportage seines Ex-Kollegen Matthias ansprach, mit den Worten, daß da wohl offensichtlich die Phantasie vergaloppiert wurde. Isani lächelte nur müde.  

Vergessen sollte man dabei auch nicht, daß zwischenzeitlich die Truppe durch den Umstand angefeuert wurde, daß es sich bei Tribal Rites of the New Saturday Night, die realistische Reportage über den Helden der tanzenden Arbeiterklasse, den John Travolta so virtuos repräsentierte, um reinste, beste Phantasie handelte.  

Wie immer man John McPhees Literature of Fact einordnet, ich persönlich habe stets das Gefühl gehabt, daß er beim Schreiben noch von einem anderen Motiv angetrieben wird; das Motiv, den alltäglichen Dingen des Lebens deren scheinbare Nebensächlichkeit zu rauben. Das, was uns selbstverständlich erscheint, wird bei McPhee in einem umfassenderen kulturellen Kontext dargestellt.

McPhee war von diesem Gedanken nicht sehr beeindruckt.

McPhee war von diesem Gedanken nicht sehr beeindruckt. Mehr dazu in einem Gespräch mit dem Autor zu seinem Buch Orangen.

Ich persönlich halte The Pine Barrens von 1968 für eines seiner besten Bücher. Nicht unbedingt wegen McPhee, sondern wegen der Hauptdarsteller: Ein Haufen Einsiedler, the Pineys, die eingekesselt in einem undurchdringbaren Kiefernwald in New Jersey, einem der dichtesten besiedelten Gebiete der USA, leben. Wer jemals mit dem Auto vom New Jersey Turnpike nach Atlantic City oder Long Beach Island gefahren ist, weiß, wovon hier die Rede ist.  

„McPhee sieht die Kiefern als einen Focus classicus“, schrieb William Howarth, „an dem sich die kulturellen Traditionen des Nordens und des Südens treffen, an dem die Geschichte vor der Revolution aufgezeichnet wurde und an dem nach der Zweihundertjahrfeier Kämpfe zwischen Erschließungsunternehmen und Ökologen ausgetragen werden. Diese Region ist sowohl ein Archetyp als auch ein anderes Land; ein Ort, der so sehr von den modernen Normen abweicht, dass er perfekte Nachkommen des amerikanischen Urbestandes hervorbringt.“ 

Von den Pineys ist hier die Rede, Leuten wie Jim Leek, die wissen, wo sie von niemandem gestört werden: „Du kannst allein sein. Ich bin nur ein Junge aus dem Wald. Ich würde nicht in einer Stadt leben wollen.“

John McPhee hat auch, zusammengestellt aus New-Yorker-Artikeln, ein Buch über das Schreiben verfaßt. Draft No. 4: On the Writing Process. Glücklicherweise hat es dies Buch nie bis in die Schubladen der hanseatischen Journalistenschulen geschafft. Als Einstieg in den Draft empfehle ich daher das Kapitel Omissions, Hübsch auch die Passagen über die Checkpoints: Fact-checkers do it a tick at a time.

Draft No. 4 zählt inzwischen neben William Strunks, Jr. und E. B. Whites The Elements Of Style sowie On Writing: Advice for Those Who Write to Publish (Or Would Like to) vom „My typewriter runs on beer“-Anwalt George V. Higgins zu den Standards. Komplementiert natürlich von Elmore Leonards 10 Rules of Writing mit dem Hinweis Easy on the Adverbs, Exclamation Points and Especially Hooptedoodle sowie für die Amuser unter den Telepathie-Fans noch Stephen Kings On Writing: A Memoir Of The Craft (deutsch: Das Leben und das Schreiben). Und für alle, die im Gegensatz zu Leonard und Higgins nicht so auf Dialoge stehen: Patricia Highsmiths Plotting and Writing Suspense Fiction heißt auch Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt

By the way: Die Reportage von McPhee über die Geologie der Champagne heißt Seasons on the Chalk, befindet sich in der Reportage-Kollektion Silk Parachute oder auf der Website des New Yorkers. Auch in meinem Buch findet sich ein Kapitel über die Kreide der Champagne. 

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