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Wozu Sex?

Sex dient der Reinigung des Genoms – jedenfalls nach einer der zahlreichen Theorien

Thomas P. Weber, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2006 

Birds – do it; bees – do it; even educated fleas – do it« – und Cole Porter hätte seine Liste endlos fortsetzen können: »Falling in love« oder, weniger romantisch ausgedrückt, Sex ist ein nahezu universelles Phänomen bei mehrzelligen Organismen. 

Gerade diese Universalität bereitet Evolutionsbiologen enormes Kopfzerbrechen. Denn Sex ist ein teures Geschäft. Was die Fortpflanzung betrifft, werden männliche Wesen nur benötigt, um die Eier der Weibchen zu befruchten, und ein paar wenige würden für diese Aufgabe genügen. 

Nun ist aber in den meisten Fällen ein Geschlechterverhältnis von 1 : 1 evolutionär stabil und damit nahezu die Hälfte des Fortpflanzungsaufwands verschenkt. 

Weibchen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen und entsprechend nur Weibchen zur Welt bringen, hätten dagegen eine doppelt so hohe Vermehrungsrate und könnten somit ohne Weiteres ihre sich dem Sex hingebenden und Männchen produzierenden Konkurrentinnen verdrängen. Trotz dieses enormen Kostennachteils hat sich die sexuelle Fortpflanzung evolutionär in den meisten Gruppen des Pflanzen- und Tierreichs durchgesetzt.

Kaum eine Organismengruppe kommt völlig ohne Sex aus; selbst viele normalerweise asexuelle Lebewesen pflanzen sich unter bestimm- ten Umweltbedingungen geschlechtlich fort. Und dann gibt es auch noch so et- was wie die Rädertierchen der Klasse Bdelloidea, die sich seit zig Millionen Jahren munter ausschließlich jungfräulich fortpflanzen und sogar 370 Arten ausgebildet haben. 

In den vergangenen Jahrzehnten brachten die großen und kleinen Lichter der Evolutionsbiologie mehr als zwanzig Hypothesen in Umlauf, um zu erklären, welche Vorteile die Kosten der geschlechtlichen Fortpflanzung aufwiegen können. Reinigt Sexualität das Genom von schädlichen Mutationen? Oder erlaubt Sex die schnelle genetische Anpassung an eine sich ständig ändernde Umwelt?

Keine einzige Vermutung konnte sich bisher als eindeutiger Favorit durchsetzen. Viele Erklärungen klingen durch und durch plausibel, aber sie funktionieren nur, wenn wichtige Parameter wie die Mutationsrate bestimmte Werte annehmen; und Plausibilität ist kein Ersatz für noch ausstehende experimentelle Bestätigungen. George Williams, einer der bedeutendsten Evolutionsbiologen des 20. Jahrhunderts, scheiterte ebenfalls mit seinem Erklärungsversuch – und bemerkte 1975, sein Misserfolg bringe ihn wenigstens in gute Gesellschaft. 

Christian Göldenboogs neuester Ausflug in die Evolutionsbiologie fasst die wissenschaftliche Debatte um die Evolution der Sexualität in unterhalt- samer und gut lesbarer Form zusammen. Einige Mitglieder der von Williams identifizierten guten Gesellschaft lernt der Leser samt ihren Denkweisen genauer kennen. 

Der 2004 verstorbene John Maynard Smith, dessen 1978 erschienenes Buch »The Evolution of Sex« ein Meilenstein der Debatte ist, stellt zu Beginn des Buchs im Gespräch mit dem Autor die wichtigsten Thesen und Theorien zur Entstehung und Beibehaltung von Sex vor. Von Maynard Smith erfahren wir dann unter anderem mehr über die Theorie der Damenwahl, von Wolf Reik aus Cambridge (England) über die so genannte Prägung des Genoms im Verlauf der Fortpflanzung, von Kim Nasmyth aus Oxford über die molekularen Grundlagen von Eiern und Spermien, und der Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza belehrt uns über den Nutzen der durch Sex geförderten genetischen Vielfalt und die wissenschaftlich unhalt- baren Illusionen des Rassismus (Spektrum der Wissenschaft 4/2000, S. 105). 

Göldenboog schreibt durchweg kompetent und spannend und lockert die Kapitel mit interessanten historischen Exkursen auf. Leider schließt man das Buch dann doch etwas unzufrieden, denn es fehlen ein roter Faden und ein klares Schlusswort. Göldenboog hätte seinen Lesern zuliebe auch gegenüber Koryphäen wie Maynard Smith oder Cavalli-Sforza häufiger Stellung beziehen sollen, statt sich hinter den meist seitenlangen Abschriften der Interviews zu verbergen. 

Eine eindeutige Antwort auf die Titelfrage »Wozu Sex?« gibt es zwar immer noch nicht – die Empirie hinkt der Theorie noch weit hinterher –, aber viele vergleichende und experimentelle Studien versprechen neue Einsichten. So erlaubt es die Genomik, in vielen Organismen die Anhäufung schädlicher Mutationen zuverlässiger als je zuvor zu messen; nur wenn die Werte in ein enges Intervall fallen, kann Sex zur »Reinigung« des Genoms dienen. Und viele Wissenschaftler versuchen verstärkt, im Freiland die Vorteile der sexuellen Fortpflanzung abzuschätzen. Göldenboogs Buch gibt einen nur ungenügenden Einblick in diese Entwicklungen und verharrt thematisch zu sehr im Dunstkreis seiner illustren Gesprächspartner. 

Glücklicherweise enthält sich der Autor leichtfertiger Analogisierungen tierischen und menschlichen Sexualverhaltens, doch gelingt es ihm nicht, das sensitive Thema ohne Rückgriff auf Klischees darzustellen. Göldenboog beruft sich ausschließlich auf männliche Autoritäten, und an zu vielen Stellen herrscht der Ton eines akademischen Männerstammtischs. Wie kaum ein anderes Thema ist die Untersuchung von Sexualität auch in den Naturwissenschaften von tief sitzenden kulturellen Klischees und Vorurteilen geprägt.

Daher ist es bedauernswert, dass Wissenschaftlerinnen wie Lynn Margulis oder Joan Roughgarden mit ihren umstrittenen, aber diskussionswürdigen Theorien zur Evolution der Sexualität oder zur sexuellen Auslese nicht selbst zu Wort kommen. Wissenschaftliche und kulturelle Deutungsmacht befinden sich eben immer noch fest in männlicher Hand. 

Thomas P. Weber 
Der Rezensent ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Tierökologie der Universität Lund (Schweden) und Buchautor. 


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